„Auch wir treten aus unserer Rolle heraus“: Das Deutsche Schauspieltheater in der Sowjetunion zwischen Bleiben und Gehen

Eine Webdokumentation von Alexej Getmann, Edwin Warkentin und Arkadiy Tsirulnikov

Das Deutsche Theater in Temirtau (Kasachstan)

Es gab bereits mehrere Nationaltheater in dem Vielvölkerstaat Sowjetunion. Nun sollten auch die Deutschen – als eine der größten Minderheiten der UdSSR – ein eigenes Theater bekommen. Allein die Ankündigung im Jahre 1975 markiert für viele Deutsche in der sowjetischen Diaspora einen Aufbruch in eine neue Zukunft. Eine Zukunft, in der viele Russlanddeutsche das letzte Kapitel einer über 200jährigen Migrationsgeschichte im fernen Osten schreiben – bevor ein neues Kapitel in Deutschland beginnt.

Rose Steinmark

2019 übergab Rose Steinmark, die ehemalige Chefdramaturgin des Hauses, das einzigartige Theaterarchiv dem Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte. Dieser Nachlass enthält zahlreiche Originale von Bühnenbild- und Kostümentwürfen, Presseberichten und Kritiken, Programmheften und Tourneebroschüren des Theaters sowie Korrespondenzen des einzigen deutschen Theaters in der Sowjetunion der Nachkriegszeit. Einen großen Wert stellen zahlreiche Presse- und Szenenfotos, Bühnenbild- und Kostümentwürfe verschiedenster Aufführungen. Einen erheblichen Anteil des verwendeten Materials bildet das Negativarchiv des früheren Theaterfotografen Valeri Kramer. Zeitlich umfasst das Material die Periode von 1975 bis 1990.

Von Moskau in die kasachische Provinz nach Temirtau

Bereits einige Kilometer vor Temirtau erstreckt sich ein beißender Geruch, der von den Abgasen der Kokereien, der Metallverarbeitungsindustrie und der Chemiewerke der Stadt kommt. Monströse Fabriken und traurig wirkende Plattenbauten prägen das Bild der Stadt inmitten der kasachischen Steppe. Ein schockierender Moment für die ersten Ankömmlinge des Theaterkollektivs, die gerade aus der schillernden Hauptstadt Moskau kommen und nun hier, nicht nur ihr Theater, sondern ihr ganzes Leben aufbauen müssen.

Folklore und Tradition: Das neue Selbstbewusstsein einer Minderheit

Auf den verschiedenen Gastspielreisen quer durch die Sowjetunion traf das Theaterkollektiv immer wieder auf Laienkünstler und Amateurgruppen, die mit ihren traditionellen Liedern und Tänzen viele Menschen vor Ort begeisterten. So entstand die Idee ein Folklorefestival in Temirtau auszurichten. Doch bis dahin gab es noch einige Hürden zu nehmen, denn die Staatsmächte waren nur wenig begeistert von dem Vorhaben. Allen Bemühungen zum Trotz, durften einige Volkskunstgruppen nicht anreisen, doch das Festival selbst wurde schließlich genehmigt.

Rose Steinmark, Viktor Heinz und Bulat Atabajew

Ermutigt durch Gorbatschows Politik der Glasnost (Duldung einer freien Meinungsäußerung), beschäftigte sich das Theater immer offener mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Auf und neben der Bühne. Es war der kasachische Regisseur Bolat Atabajew, der die Idee hatte, die gesamte Geschichte der Russlanddeutschen von der Bühne aus zu erzählen. Zusammen mit dem Schriftsteller Viktor Heinz machte er sich ans Werk des ersten Teils einer Trilogie mit dem Namen „Auf den Wogen der Jahrhunderte“.

Mit dem Satz „Wir treten aus unserer Rolle heraus“ begann die Resolution der ostdeutschen Theater, in der 1989 politische Reformen eingefordert wurden. Im Herbst 1990 gastierte das Deutsche Schauspieltheater Temirtau mit den Stücken AUF DEN WOGEN DER JAHRHUNDERTE und MENSCHEN UND SCHICKSALE in der noch-DDR. Mit diesen Dramen wurde zum ersten Mal öffentlich die Auswirkungen der stalinistischen Terrorherrschaft auf die deutsche Minderheit thematisiert, was einem unerhörten Tabubruch im damaligen System nahekam. Dabei sollte das Minderheitentheater ursprünglich nach Vorstellungen der Kulturbehörden die Sowjetdeutschen auf den ideologische Kurs der Partei bringen. Zusammen mit ihren ostdeutschen KollegInnen erlebten die russlanddeutschen SchauspielerInnen hoffnungsvoll und euphorisiert hautnah die Wiedervereinigung. Aber nur fünf Jahre später verließen die letzten TheatermacherInnen ihrem Publikum folgend ihre Heimat, um sich als Aussiedler im vereinigten Deutschland dauerhaft niedergelassen.

In der Webdokumentation werden Stationen dieser einzigartigen Institution entlang der politischen Entwicklungen in der Sowjetunion und speziell um die Russlanddeutschen in der Zeit zwischen 1975 und 1990 nachgezeichnet. Die Themen und Anliegen der 1980 in der Kasachischen Steppe gegründeten einzigen professionellen deutschsprachigen Bühne der späten Sowjetunion bewegten sich auf und neben der Bühne zwischen Anpassung an die Realien der reaktionären Zeit der späten 1970er und Anfang 1980er Jahre, aktiver Mitwirkung an gesellschaftlichen Reformprozessen der kurzen Demokratisierungsperiode 1985-1990, bis zur Resignation an den postsowjetischen Krisen, nicht eingehaltenen Versprechen der Behörden und dem Massenexodus der Russlanddeutschen nach Deutschland.

Eine Webdokumentation von Alexej Getmann, Edwin Warkentin und Arkadiy Tsirulnikov
Unter Mitwirkung von Dr. Alfred Eisfeld, Jan Pöhlking, Charlotte Warkentin
Ein Projekt des Kulturreferats für Russlanddeutsche, des Herder-Instituts für historische Ostmitteleuropaforschung, des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte sowie der Ruhruniversität Bochum – Osteuropäische Studien mit Praxisbezug
Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien