Lost history – shared memories: Deportationen in der Sowjetunion aus der russlanddeutschen und tschetschenischen Perspektive

Eine Webdokumentation von Alexej Getmann, Edwin Warkentin und Marit Cremer

Lost history - shared memories

Lost history – shared memories ist eine historische Webdokumentation über die Deportationen in der Sowjetunion. Aus der russlanddeutschen und der tschetschenischen Perspektive blicken wir sowohl auf die einzelnen und persönlichen Schicksale als auch auf die gesellschaftliche Transformation sowie die institutionelle Aufarbeitung dieser Ereignisse.

Larisa Dimaeva

Larisa Dimaeva wurde 1963 in Atschchoj Martan in der Tschetschenisch-Inguschischen ASSR geboren. Sie ist Philologin, arbeitete noch während des zweiten Tschetschenienkriegs als Lehrerin in einer Schule und floh mit ihrer Familie 2002 vor dem Krieg nach Deutschland.  Im Interview erzählt uns Larisa Dimaeva ihre Familiengeschichte: Von der Deportation ihrer Vorfahren bis zu den Tschetschenien-Kriegen und der Aussiedlung nach Deutschland.

Alexander Muth

Schmerzhafte Erinnerungen an vergangene Tage: Vieles, woran das Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte erinnert, hat Alexander Muth am eigenen Leib erlebt. Er ist 1925 in der Wolgarepublik geboren, erlebte als 15-jähriger die Deportation seiner Familie nach Sibirien und musste anschließend im Nord-Ural Zwangsarbeit verrichten. Bis zur Aussiedlung nach Deutschland 1989 lebte der gelernte Schuster in Kirgisien. In Deutschland verfasste Alexander Muth seine Erinnerungen und trug wesentlich zur Gründung des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold bei.

Katharina Heinrich

Katharina Heinrich ist in einer wolgadeutschen Familie im sowjetischen Kirgisien geboren und bereits 1979 nach Deutschland ausgesiedelt. Ihre Mutter, Maria Heinrich, wurde in der Sowjetunion als Faschistin beschimpft und erlebte Drohungen und Einschüchterungen durch die sowjetischen Behörden. Als studierte Slawistin und Osteuropahistorikerin war sie journalistisch für den WDR und die Deutsche Welle tätig. Sie engagiert sich für die Gesellschaft MEMORIAL und ist Beiratsmitglied im Lew Kopelew Forum.

Ibragim Tuschajew

Ibragim Tuschajew wurde in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny geboren und kam als Teenager im ersten Tschetschenienkrieg als einer der ersten Geflüchteten aus Tschetschenien nach Deutschland. Er lebt und arbeitet in Köln und engagiert sich vielfältig in der tschetschenischen Diaspora. Die Nachkommen der tschetschenischen Deportierten kommen heute als Asylbewerber*innen nach Deutschland. Sie fliehen vor Gewalt, politischer Verfolgung und Perspektivlosigkeit aus ihrer Heimat Tschetschenien.

Seit der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten kommt die Mehrheit der Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Wenn die Gründe ihrer Zuwanderung auch vielfältig sind, so teilen viele von ihnen doch ähnliche Kollektiverinnerungen. Ihre Eltern und Großeltern waren aufgrund ihrer jeweiligen ethnischen Zugehörigkeit unter Stalin pauschal der Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht verdächtigt und nach Zentralasien und Sibirien deportiert worden. Insgesamt 2,2 Millionen Sowjetbürger*innen gerieten während des deutschen Angriffskrieges von 1941 bis 1944 so zwischen die Fronten von Nationalsozialismus und Stalinismus. Zu ihnen gehörten Sowjetdeutsche, Griech*innen, Karatschaier*innen, Balkar*innen, Kalmük*innen, Tschetschen*innen, Ingusch*innen, Meschet*innen, Kurd*innen, Krimtatar*innen, Bulgar*innen, Armenier*innen u.a.

Die Erinnerungen an die erlebten traumatischen Ereignisse während der Deportation, Zwangsarbeit und Stigmatisierung als Volksfeinde verschwanden aus Angst vor weiteren Strafen hinter einer Mauer des Schweigens. Den nachfolgenden Generationen wurden unbewusst die erlittenen Verletzungen und Ängste weitergegeben. In ihren Biografien sind die sozialen und psychischen Folgen der Gewalt an ihren Vorfahren auch heute noch ablesbar. Die Aufarbeitung dieses Kapitels der sowjetischen Geschichte ist noch längst nicht abgeschlossen und betrifft heute einen bedeutenden Teil der Bevölkerung Deutschlands.

Während das stalinistische Regime versuchte, Ethnien, denen ein Interesse am Sieg der Wehrmacht unterstellt wurde, durch Deportation in abgelegene Gebiete von der Front fernzuhalten, versuchte das Deutsche Reich, mit der Sowjetmacht unzufriedene Gruppen für Kriegsverbrechen und den Holocaust zu vereinnahmen.

Zu den zahlenmäßig größten unter Stalin deportierten Ethnien gehörten 1,2 Millionen Sowjetdeutsche, von denen 1941 etwa 80 Prozent zwangsumgesiedelt und auch alle anderen in den Folgejahren einem administrativen Überwachungsregime unterstellt und zur Zwangsarbeit mobilisiert wurden.

Drei Jahre später, 1944, wurden praktisch alle 387.000 Tschetschen*innen, 91.000 Ingusch*innen sowie weitere Ethnien aus dem Kaukasus und dem Schwarzmeergebiet unter dem gleichen Vorwand einer angeblichen Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht nach Zentralasien deportiert. Dort trafen sie auf die zuvor deportierten Deutschen und zahlreiche weitere verbannte ethnische Gruppen.

Eine Kooperation des Kulturreferats für Russlanddeutsche (Edwin Warkentin), Akademie am Tönsberg (ehemals Institut für Migrations- und Aussiedlerfragen – Heimvolkshochschule St. Hedwigs-Haus) (Dr. Nike Alkema), MEMORIAL Deutschland (Dr. Marit Cremer).

Finanziert durch die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)